Lebensfähige Systeme

Elemente, Steuerungsachsen und das Prinzip für die Gestaltung eines Viable Systems.

Lebensfähige Systeme

Lebensfähige Systeme (Viable Systems) sind Menschen, Tiere oder Pflanzen. Sie entwickeln sich und pflanzen sich fort oder sie verschwinden, wenn sie ihren Zweck nicht mehr erfüllen. Veränderungen in ihrer Umwelt können dazu führen, dass sich ihr Bestehenszweck ebenso ändert. Folglich müssen sich Lebewesen an neue Gegebenheiten anpassen, soll ihre Art nicht verschwinden.

Auch Unternehmen oder öffentlich-rechtliche Organisationen sind als lebensfähige Systeme zu betrachten. Denn sie werden alle dazu betrieben, einen oder mehrere Zwecke zu erfüllen. Jede Führungsperson muss in ihrem Verantwortungsbereich dafür sorgen, dass die geleistete Arbeit auf Zweckerfüllung ausgerichtet ist.

Mit seinem Modell des lebensfähigen Systems (Viable System Model VSM, Beer, Brain of the Firm, S. 130 ff.) zeigt Stafford Beer, wie Prozesse und Strukturen zu gestalten sind, damit die Komplexität der Unternehmensführung gemeistert werden kann (vgl. Pfiffner, S. 9). „Der gemeinsame Nenner aller Organisationen liegt weder in ihrer Grösse, ihrem Charakter, nicht in ihrer Branche, und schon gar nicht in ideologischen Fragen, sondern in ihrer Komplexität. Von dieser Frage sind alle Unternehmen gleichermassen betroffen, denn Komplexität und Information sind das Kernthema und die Substanz modernen Managements “ (Pfiffner, S. 11).

Weil Management Control für die Gesamtheit der Führungsaufgaben zur Umsetzung und Verfolgung von Entscheidungen steht, sollte das VSM auch Grundlage für den Aufbau von Management-Control-Systemen sein.

Beer belegt, dass zur Erreichung der Lebensfähigkeit im Nervensystem eines Lebewesens (inklusive Hirn) fünf Elemente, zwei Steuerungsachsen und das Prinzip der Zellteilung notwendig und hinreichend sind (vgl. Pfiffner, S. 79-81). Diese Struktur kann auch auf Unternehmen, öffentliche Organisationen oder ganze Länder übertragen werden. Sie ist, wie zu zeigen sein wird, invariant und rekursiv.

Im Viable System Model wird das Gesamtunternehmen in seiner Umwelt (Amöbenform) dargestellt. Die beiden operativen Einheiten A und B, z.B. Tochtergesellschaften oder Werke, erfüllen selbstgesteuert ihren Zweck. Sie werden von ihrem lokalen Management geführt und kommunizieren mit den für sie relevanten Teilen der Umwelt, welche sich ihrerseits ständig verändern. Auf Lebewesen bezogen könnten das die Leber und die Nieren sein.

Lebensfähige Systeme
Lebensfähige Systeme

Damit sich die operativen Teilsysteme A und B koordinieren können, z.B. weil sie gemeinsam eine Maschine nutzen oder einen Fuhrpark, bedarf es des Selbst-Koordinationssystems 2.

Das System 3 sorgt für die Optimierung des bestehenden Geschäfts. Wie können wir als Gesamtheit Synergien nutzen und dadurch erfolgreicher werden? Wie lassen sich Differenzen zwischen den Operationen A und B regeln, wenn die Managements von A und B sich nicht einigen können? Das ist die operative Führung des Gesamtsystems. Oft steht sie unter der Leitung eines COO (Chief Operating Officer).

Die senkrechten doppelseitigen Pfeile repräsentieren die Kommunikation zwischen den Systemen 1 und 3. Hier geht es einerseits um die Rechenschaftspflicht der Führungspersonen der Systeme 1 (nicht nur finanziell), um die Festlegung von operativen Zielen, Budgets und Verantwortlichkeiten für die verfügbaren Ressourcen, sowie um Spielregeln (Resource Bargain and Accountability).  Andererseits können Umweltentwicklungen dazu führen, dass in der gesamten Organisation dringende Änderungen umzusetzen sind, die in den bisherigen Vereinbarungen nicht vorgesehen waren, jedoch für die Überlebensfähigkeit unumgänglich erscheinen. Solche „Corporate Interventions“ dürfen nur im Notfall erfolgen, da sonst die komplette Planung und Steuerung von den Verantwortlichen für die Systeme 1 an das System 3 „zurückdelegiert“ wird.

In den folgenden Darstellungen werden aus diesem Grund der direkte Interventionskanal und der Ressourcen- und Verhandlungskanal getrennt dargestellt (senkrechte Pfeile).

Das System 3* dient der unabhängigen und ungefilterten Information. Diese Aufgabe übernimmt zum Teil die Interne Revision, indem sie Buchhaltungen prüft und dokumentiert, ob gesetzliche (Compliance) oder interne Vorschriften eingehalten werden. Mindestens ebenso wichtig sind Direktinformationen, welche sich Führungskräfte der Systeme 3 und 5 durch Gespräche mit Mitarbeitenden aller Bereiche und Stufen einholen oder Informationen, die durch „Mistery Shopping“ sowie durch Umfragen bei Kunden entstehen. Sollen solche Informationen zu Umsetzungshandlungen führen, müssen diese durch Vertreter der Systeme 1 und 3 angeordnet werden, weil sie die Realisierungsverantwortung tragen.

Die Systeme 1 – 3 und 3* kümmern sich, um mit Stafford Beer zu sprechen, um das „Inside and now“ (vgl. Beer, Diagnosing the System, S. 111), also um den insgesamt erfolgreichen Betrieb der bestehenden Geschäfte in ihrer aktuellen Umwelt.

Veränderungen in den Unternehmensumwelten (vgl. den Beitrag  Management Control erfordert Umweltbezug) führen jedoch oft dazu, dass andere als die bisherigen externen Einflussfaktoren für den zukünftigen Erfolg des Unternehmens bestimmend werden:

    • Bestehende Märkte verschwinden, neue entstehen
    • Konsumenten fragen neue Produkte nach oder wollen andere Dienstleistungen
    • Andere Fähigkeiten und Kenntnisse der Mitarbeitenden werden wichtig
    • Neue Kommunikationsprozesse entstehen und die Arbeitszeit „vor Ort“ nimmt ab
    • Rohstoffe oder Produktionsverfahren werden „geächtet“
    • Neue Materialien oder Prozesse werden massgeblich
    • Neue Technologien beginnen sich durzusetzen
    • Gesetzliche Änderungen erfordern in den Systemen 1 – 3 Anpassungen.

Das Unternehmen muss folglich Frühwarnung (Aufklärung) betreiben, damit es feststellen kann, ob es in den Systemen 1 neue Angebote entwickeln oder gar den Unternehmenszweck (System 5) anpassen muss.

Das ist, wiederum nach Stafford Beer (ebenda, S.111), das Thema des „Outside and then“. Es folgt der Frage, wie das bestehende Unternehmen anzupassen ist, damit es auch in Zukunft lebensfähig bleibt. Frühwarnung ist die Aufgabe des Systems 4.

Das System 5 schliesslich stiftet die Identität des Unternehmens. Der Unternehmenszweck wird festgehalten und in der Unternehmenspolitik werden die Leitplanken für die Strategiefindung und das operative Management definiert. Dazu muss System 5 die Informationen und Absichten der Systeme 3 und 4 ausbalancieren und, wenn keine argumentative Einigung erzielt wird, abschliessende Entscheide treffen. Denn das System 5 trägt auch die Verantwortung für die Zielerreichung des Gesamtunternehmens gegenüber seinen Eigentümern.

Zur vertieften Beschreibung der in den Pfeilen auszutauschenden Informationen werden in der nächsten Abbildung die Umwelt und die Inwelt der Organisation getrennt dargestellt und noch fehlende Beziehungen dazu gefügt:

    • Vom System 5 (Identität) ziehen sich die Informationskanäle bis zu den umsetzenden 1-er-Systemen durch. Der Resource Bargain and Accountability-Kanal bezieht sich wie erwähnt auf Ziele, Budgets und Ressourcenverfügbarkeit sowie auf die Rechenschafspflicht der Beauftragten. Der Corporate Intervention-Kanal wird nur verwendet, wenn zwischen den nachgelagerten Systemen keine Einigung erreicht wird oder wenn dringliche Umweltveränderungen sofortige Handlungen erfordern.
    • Die beiden halbrunden schwarzen Pfeile stehen für die Balance zwischen Investitionen (inhaltlich und finanziell) in die Unternehmenszukunft und Erhaltung der Lebensfähigkeit der bestehenden Systeme 1.
    • Die Doppel-Wellenlinien kennzeichnen Abhängigkeiten zwischen operativen Teilsystemen. Das sind z.B. gemeinsam benutzte Anlagen und Einrichtungen oder Mitarbeitende, die in mehreren Operationen im Einsatz sind. Die Koordination dieser Einsätze erfolgt im System 2.
Systeme 1-5 und ihre Umwelten
Systeme 1-5 und ihre Umwelten

Die beiden operativen Systeme beobachten jeweils denjenigen Teil der Gesamtumwelt, der aus ihrer operativen Sicht massgeblich ist. Überschneidungen der Teilumwelten kommen oft vor, z.B. wenn Kunden bei beiden Operationen kaufen, gleiche Lieferanten zum Zuge kommen oder sich potenzielle Mitarbeitende bei beiden Operationen bewerben.

Auch die Teilumwelt für die Beobachtung des „Outside and then“  kann sich mit den aktuellen Teilumwelten der Operationen überschneiden. Der Fokus im System 4 muss jedoch in erster Linie auf das Erkennen potenziell relevanter neuer Entwicklungen liegen (vgl. den Beitrag „Schwache Signale“).

Ein lebensfähiges System besteht aus 5 Elementen, 2 Steuerungsachsen und einem Prinzip. Die fünf Elemente und die beiden Steuerungsachsen sind in den Darstellungen oben enthalten. Das Prinzip heisst Rekursivität und ist Thema des nächsten Beitrags.

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